Warum so lange schweigen
Sexueller Missbrauch passiert täglich: in der Familie, in der Kirche, in Vereinen, am Arbeitsplatz. Das Thema Missbrauch betrifft uns alle: Uns, die wir betroffen sind, aber auch die Gesellschaft, in der wir leben.
Die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, setzt Mut und Kraft voraus.
Die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs nimmt endlich einen breiten und notwendigen Raum in der Gesellschaft ein. Das bisher vorherrschende kollektive Wegschauen und das Nicht-wahrhaben-Wollen in der Gesellschaft wird langsam aufgebrochen und durch enttabuisiertes Wahrnehmen, gezieltes Hinschauen und aktives Zuhören ersetzt. Doch wer sich als «Opfer» nach Jahren des Schweigens durchringen kann, über den erlebten Missbrauch zu reden, sich zu beklagen und eventuell sogar damit an die Öffentlichkeit zu gehen, riskiert immer noch viel und wird dabei häufig nicht verstanden.
Erst wenn Angehörige und Verantwortliche der Kirche und Gesellschaft bereit sind, sich mit den Mechanismen des Verdrängens von traumatischen Missbrauchserfahrungen vertieft auseinanderzusetzen und zu begreifen, wie viel es braucht, bis ein Opfer es endlich wagt, zu reden, wird es möglich sein, dass eine Mehrheit von Betroffenen Angst und Scham überwindet und versucht, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen.
Mehrere Studien zeigen, dass es Jahre oder sogar Jahrzehnte braucht, bis Missbrauchsbetroffene erstmals in der Lage sind, sich jemandem anzuvertrauen. So hat zum Beispiel eine US-amerikanische Erhebung bei 500 männlichen Missbrauchsopfern aus dem Jahr 2014 ergeben, dass Betroffene erst nach durchschnittlich 21 Jahren mit jemandem über ihre Erfahrungen sprechen. Weitere sieben Jahre dauert es dann in der Regel noch, bis sie beginnen, das Erlebte aufzuarbeiten. Die Ursachen für das Schweigen sind vielfältig. Die Gesellschaft und ihre Ansichten sind vermutlich ein Schlüssel dazu.
Nur schwer erahnen lässt sich, wie viele Betroffene es gibt, die ihre lebenslang bedrückenden Erinnerungen des Missbrauchs unausgesprochen mit ins Grab nehmen. Bekannt ist jedoch die Tatsache, wie häufig Personen auf dem Sterbebett mit entsprechenden Äusserungen gegenüber Angehörigen oder dem Pflegepersonal noch versuchen, sich von einer schweren Last zu befreien.
Aussenstehende Nichtbetroffene bekunden oft grosse Mühe zu verstehen, warum Missbrauchsbetroffene so lange schweigen. So musste sich zum Beispiel ein Missbrauchsopfer kürzlich Folgendes anhören, nachdem seine 60 Jahre zurückliegende Geschichte öffentlich gemacht wurde: «Das ist doch ein dummes Gestürm, dass man nach so vielen Jahren eine solch uralte Geschichte aufwärmen kann, das finde ich absolut daneben…».
Eine Beschwerde beim Schweizerischen Presserat (siehe Urteil 55/2020 PDF) auf Grund der Veröffentlichung einer Missbrauchsgeschichte zeigt beispielhaft auf, mit welch infamen Unterstellungen Missbrauchsopfer zu rechnen haben, wenn sie sich getrauen, mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit zu gehen.
Solche Aussagen und Anschuldigungen sind einerseits für Betroffene ungemein verletzend sowie schwer zu ertragen und bezeugen andererseits die vorhandene fatale Unwissenheit zum Thema «Schweigen der Opfer».
Das lange Schweigen hat viel mit Ängsten, Scham und Schuldgefühlen zu tun.
Es gibt viele und teils recht unterschiedliche Gründe für das Schweigen der Opfer. Nachfolgend eine (unvollständige) Auflistung möglicher Aspekte und relevanter Ursachen:
- Ängste
– Angst, dass man mir nicht glaubt
– Angst vor Drohungen – Viele Täter und Täterinnen sprechen gezielte Drohungen aus, die das Schweigen der Opfer absichern sollen.
– Angst vor möglichen Reaktionen
– Angst vor Verlust der persönlichen Integrität
- Schamgefühle
– Schamgefühle sind innerseelische Vorgänge und gehören zu den stärksten wahrnehmbaren Gefühlen.
– Die Beschämung durch andere Menschen erfolgt häufig in Form von Demütigungen und Kränkungen.
– Scham kombiniert mit quälenden Schuldgefühlen lähmen Körper und Geist.
- Schuldgefühle
– «Habe etwas Schlechtes gemacht, habe etwas Schlimmes zugelassen.»
– Während die Täter ihre Taten in der Regel verleugnen, bagatellisieren oder umdeuten, fühlen sich die allermeisten Opfer sexueller Übergriffe in irgendeiner nicht definierbaren Form mitschuldig an dem, was passiert ist.
– Viele Betroffene kämpfen mit Schuldgefühlen, weil es den Tätern und Täterinnen häufig gelingt, die scheinbare Verantwortung auf das Opfer abzuschieben. Und damit geht die Angst einher, dass man mit Sätzen wie „Warum hast du dich denn nicht gewehrt?“ konfrontiert wird.
– Lieber ist man schuldig als hilflos. Diese Hilflosigkeit, dass man zum Opfer geworden ist, das ist ein unerträgliches Gefühl.
- Mangelnde Sprache
– Vielfach fehlt speziell betroffenen Kindern noch die Sprache, um auszudrücken, was sie so enorm verwirrt.
– «Ich wusste immer, dass mich seit der Kindheit etwas Schlimmes bedrückt, aber ich konnte es nicht aussprechen, weil mir die Worte dazu fehlten.»
- Gefühlsambivalenz
Eine wesentliche Rolle beim Schweigen der Opfer/Betroffenen/Überlebenden spielen die wahrgenommenen eigenen Gefühlsambivalenzen. Dieser Gefühlsdschungel von Widersprüchen ist verwirrend und häufig schwer auszuhalten.
– Ich wurde misshandelt. | Ich bekam Zuwendung.
– Ich erlebte Ekel. | Ich erlebte angenehme Gefühle.
– Ich muss schweigen. | Ich möchte schreien.
– Ich möchte zerstören. | Ich muss erhalten.
- Selbstschutz
Viele Opfer schweigen weiter, um ihr „normales Leben“ zu schützen und aufrechtzuerhalten. Denn die erneute Konfrontation mit dem Missbrauch kann dazu führen, dass das Opfer das traumatische Erlebnis erneut durchleiden muss.
- Gesellschaftliches Verhalten
– Bezweifeln der Glaubwürdigkeit
– Wegschauen und meinen, das wären nur Einzelfälle, die mich nicht betreffen.
– Fehlende Bereitschaft zum Zuhören und Hinsehen
– Fehlender offener gesellschaftlicher Dialog
Wer helfen will, muss vorerst all diese unterschiedlichsten Aspekte erkennen und verstehen. Erst dann ist eine Basis für ein Vertrauensverhältnis vorhanden, das Betroffenen hilft, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen.
A.R. Aug. 2021