Verdrängen, Vergessen und Schweigen

Über mehrere Jahrzehnte versuchte ich, den erlebten sexuellen Missbrauch durch einen katholischen Priester während meiner Kindheit zu verdrängen und zu vergessen. In letzter Zeit gelingt mir dies immer weniger.

Über all die Jahre habe ich einfach geschwiegen und aufkommende Erin­nerungen unterdrückt. In den letzten Jahren habe ich immer wieder zu er­gründen versucht, warum ich das Schweigen dem Reden vorgezogen habe. Die­ses Verhalten ist für mich auch heute noch unerklärlich. Ich vermute aus emp­fundener Scham und Angst vor dem Verlust meiner Würde und Ehre. Es ist schon eigenartig, dass ich als Kind einerseits Opfer eines üblen Missetäters ge­worden bin und andererseits, dass ich mich dafür noch geschämt habe.

Ich werde demnächst 72 Jahre alt. Unter den viele Jahre dauernden Strapazen durch Unterdrücken von Gefühlen und Verdrängen von schlechten Erinne­rungen habe ich bewusst und unbewusst gelitten. Ich bin mir sicher, dass diese psychischen Belastungen auch meiner physischen Gesundheit Schaden zuge­führt haben.

Warum ich meine Vergangenheit niederschreibe

Jedes Mal wenn ich Berichterstattungen in Zeitungen oder im Fernsehen über Missbrauchsskandale wahrgenommen hatte, kamen alte und verdrängte Erin­nerungen wieder an die Oberfläche und wühlten mich auf. Als ich kürzlich das Buch von Daniel Pittet «Pater, ich vergebe Euch! Missbraucht, aber nicht zer­brochen» gelesen habe, kam mir wieder alles hoch. Seine im Buch geschilderten Erfahrungen des sexuellen Missbrauchs decken sich in vielerlei Hinsicht mit meiner erlebten Geschichte. Ein wesentlicher Unterschied zu Daniel Pittet be­steht jedoch darin, dass ich bis heute und vermutlich bis an mein Lebensende nicht die geringste Absicht verspüre, meinem (zum Glück längst verstorbenen) Peiniger zu vergeben oder die abscheulichen Taten nur als Krankheit zu verste­hen.

Je mehr ich versuche, durch Reflektieren meiner in der Jugend erduldeten psy­chischen Verletzungen das Geschehene und deren Folgen aufzuarbeiten, desto mehr muss ich erneut gegen aufkommende Wut, Aggressionen, Hass, Rachege­fühle und häufig empfundener Hilfslosigkeit ankämpfen.

Bei den wiederkehrenden Rückblenden über mein vergangenes Leben stelle ich meist nur fragmentarisch vorhandene Erinnerungen an die Zeit des Missbrau­ches und deren Folgen fest. Es scheint mir, dass ich mich im Kreise drehe und nicht weiterkomme. Darum habe ich mich jetzt entschlossen, meine eigene Ge­schichte aufzuschreiben. Mit dem Nachdenken über meine Vergangenheit und dem Niederschreiben besonderer Aspekte meiner Biografie will ich Ordnung in mein Gefühlsleben bringen und die meist quälenden Erinnerungen mit Ver­stand und Vernunft bewältigen.

Das Erstellen dieses speziellen Teils meiner Biografie dient in erster Linie mir selber. Ich bin der Meinung, dass ich mit der gesamten Ausbreitung der vielsei­tigen Aspekte meiner eigenen Missbrauchsgeschichte mehr Klarheit und da­durch wichtige Erkenntnisse gewinne, die mir zur Bewältigung meiner Kind­heitserlebnisse dienen. Ich sehe die Erarbeitung auch als Prozess, endlich Frie­den mit mir selber zu finden.

Vermutete Leser werden sich mit Sicherheit fragen, warum ich so viele Exkurse mache und Situationen aus ganz verschiedenen Lebensbereichen beschreibe. Dies darum, weil ich während dem Niederschreiben erkannt habe, dass alle Be­gebenheiten in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit dem erleb­ten Missbrauch stehen. Die Auswirkungen des Missbrauchs haben mich über mein ganzes bisheriges Leben wie ein roter Faden begleitet und verfolgt.

Schuld- und Angstgefühle

Das fast Verrückteste und Tragische an meiner erlebten Missbrauchsgeschichte liegt wohl darin, dass ich manchmal das Gefühl hatte, in irgendeiner Form mit­schuldig am ganzen Geschehen zu sein. Was muss vorgefallen sein, dass ich mich immer wieder mit solch absurden Gedankengängen herumgeplagt habe?

Das lange Schweigen hat viel mit Angst zu tun. Angst vor Verlust meiner Integ­rität. Ich habe früher unter anderem nicht über meine Missbrauchsgeschichte sprechen können, weil ich befürchtete, die dümmste aller Fragen gestellt zu be­kommen, welche lautet: «He, warum hast du dich dann nicht gewehrt?».

Warum habe ich mich damals nicht wehren können? Warum habe ich die Ab­sichten hinter den Zuwendungen und Geschenken nicht hinterfragt? Warum fühlte ich mich mitschuldig? Warum kam ich nie auf die Idee, Hilfe anzufor­dern? Warum hatte ich später derartige Angst und Schamgefühle, mich jeman­dem anzuvertrauen und darüber zu sprechen? Warum glaubte ich, dass ich allein in der Lage wäre, aufkommende Gedanken so tief in meinem Unterbe­wusstsein versenken zu können, dass mit der Zeit durch Vergessen sich alles auflösen und beruhigen würde?

Auf all diese Fragen fand ich über Jahrzehnte weder Antworten noch Strategien, mich von diesen Belastungen zu befreien. Erst nach meiner Pensionierung habe ich begonnen, mir durch Lesen von Fachliteratur und vielen Berichten das not­wendige Wissen über Formen und Auswirkungen sexueller Gewalt während der Kindheit anzueignen. Dabei habe ich wichtige Erkenntnisse gewonnen, wie ich die erlebte Geschichte etwas distanzierter und systematischer betrachten und aufarbeiten kann.

Fragen, die mich beschäftigen

Warum gerade ich? Ich glaube nicht, dass ich rein zufällig Opfer des pädophilen Pfarrers wurde. Eher vermute ich einige ganz subtile Überlegungen des Täters. In den letzten Jahren habe ich oft überlegt, welche Aspekte eine massgebende Rolle gespielt haben könnten.

  • Meine Eltern waren einfache und intellektuell ungebildete Leute. Da musste der Täter nicht scharfsinniges Hinterfragen befürchten.
  • Die Strenggläubigkeit war durch die regelmässigen Gottesdienstbesuche und die grosse Kinderschar erkennbar. Das erhöhte die Unantastbarkeit des «Hochwürden». Ein sehr grosser Respekt war garantiert.
  • Zudem war anzunehmen, dass Kinder aus strenggläubigen Familien nicht aufgeklärt sind.
  • Der Pfarrer hatte Kenntnisse über die Stärken und Schwächen meiner Eltern aufgrund von Hausbesuchen und aus dem Beichtstuhl. Und das nicht nur vor, sondern auch während der ganzen Missbrauchszeit. Damit konnte er auch ausspionieren, ob irgendwoher Gefahr drohte.
  • Wir waren eine arme Familie. So konnte er sich einfacher als «Wohltäter» einschmeicheln.
  • Meine Eltern waren Zugezogene. Da war also nicht mit einem grossen Netzwerk innerhalb der Dorfgemeinde zu rechnen. Damit existierte eine potenzielle Gefahrenquelle weniger.

Wenn mir im späteren Leben plötzlich und unverhofft wieder Bilder aus der Missbrauchszeit durch den Kopf schwirrten, habe ich mich mit folgenden Fra­gen abgequält:

  • Warum eigentlich habe ich mich gegen den langjährigen Missbrauch, ge­koppelt mit Gefühlen wie «Zur Verfügung stehen» oder «Herhalten», nicht gewehrt und keinen Widerstand geleistet?
  • Warum konnte ich damals den daraus entstehenden Schaden und die kata­strophalen Auswirkungen für mein ganzes Leben nicht erkennen?
  • Weshalb fehlte mir damals das Bewusstsein, dass mir ständig Gewalt ange­tan wird, dass ich also ständig «vergewaltigt» wurde?

Hilf- und ratlos habe dann einfach versucht, solche Gedanken und Fragen mög­lichst schnell wieder zu verdrängen und mich mit anderen Dingen (meist beruf­lichen) zu beschäftigen. Erst in den letzten Jahren habe ich durch Lesen von vielen Fachartikeln zum Thema «Pädophilie» einige Erkenntnisse über Gründe und Ursachen meines damaligen Verhaltens gewonnen. Es sind dies u.v.a.m.:

  • Ausgeprägte Autoritätsgläubigkeit (ein Priester kann doch nichts Verwerfliches tun, er weiss doch, was sich gehört)
  • Keine Erfahrungen von Widerstandsstrategien und Abgrenzungs­möglichkeiten (habe nie gelernt, Nein zu sagen)
  • Zu viele Tabus und null Aufklärung (wegen fehlender Sprache konnte ich nicht ausdrücken, was mich so verwirrte)
  • Schuldgefühle (habe etwas Schlechtes gemacht, habe etwas Schlimmes zugelassen)
  • Angst (vor den Folgen was passieren würde, wenn ich gesagt hätte: «Ich gehe nie mehr zum Pfarrer.»)
  • Angst (kann doch nicht meine Eltern und Geschwister mit etwas derart Beschämendem verletzen)
  • Angst (kann doch das Schweigeversprechen nicht einfach brechen)
  • Gefühlsambivalenz (erlebte sehr Unangenehmes / wurde bevorzugt und beschenkt; musste schweigen / hätte aber lieber geschrien)
  • Mangelndes Selbstvertrauen (mir wird doch niemand glauben)

Eine ganz andere Frage hat mich auch über viele Jahre beschäftigt. Sind der Pfarrköchin, dem Vikar oder weiteren Personen, die im Kirchendienst standen, wirklich nie Ungereimtheiten aufgefallen? Warum hat niemand in der Umge­bung der Tatorte Wahrnehmungen über den Missbrauch gemacht oder sonder­bare Beobachtungen genauer hinterfragt? Haben sie vielleicht Vermutungen gehabt und sich nicht getraut weiter zu denken? Ich weiss es nicht und werde sicher nie mehr etwas darüber erfahren, weil alle genannten Personen längst verstorben sind.

Eines ist mir aber in der Zwischenzeit klar geworden: In der damaligen Zeit war es mit grosser Wahrscheinlichkeit gar nicht vorstellbar, dass ein «Hochwürden» ein Missbrauchstäter sein könnte. Zudem vermute ich, dass die damalige Unan­tastbarkeit und Abgehobenheit von «Geistlichen» es nicht zuliess, etwas derart Unmoralisches über diese «Gottgeweihten» zu denken. Vermutlich kamen sol­che Gedanken einer Todsünde gleich.

Warum haben meine Eltern und Geschwister nie Fragen gestellt. Warum sind sie nach der Bezahlung von Schulgeldern und anderen ungewöhnlichen Ge­schenken nicht hellhörig geworden. Warum haben meine Geschwister auch nach Bekanntwerden der vielen Missbrauchsgeschichten nie nachgefragt? Oder hatten Sie eventuell Angst, etwas unerhört Schlimmes zu erfahren? Ich weiss es wirklich nicht.

Schon seit längerer Zeit habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie schi­zophren Priester sein müssen, wenn sie nur wenige Stunden vor einem Got­tesdienst sexuelle Übergriffe vollzogen und ihre «gesalbten» Hände in die Ho­senschlitze von unschuldigen Kindern gesteckt haben und dann wenig später mit den gleichen «beschmutzen» Fingern die Hostien bei der Kommunion an nichtsahnende Gläubige verteilten. Wenn dann solche abscheuliche Menschen von Bischöfen einfach nur als unreif oder krank bezeichnet werden, möchte ich schreien und ausrufen: Die sind weder unreif noch krank, sondern perverse Missbrauchstäter und Verbrecher!

Und noch eine etwas hypothetische Frage: Würde die Menge aller auf der Welt vorhandenen Mühlsteine ausreichen, um sie um den Hals aller bisherigen pries­terlichen Missbrauchstäter zu binden? Genau nach dem Zitat aus dem Markus­evangelium 9.42: «Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde.»
Ich vermute eher ein «Kaum»! Warum wohl werden solche Bibelstellen bei Sonntagspredigten jeweils ausgeblendet?

Was geblieben ist

Beim Abtauchen in meine im Bewusst- und Unterbewusstsein verankerten Er­innerungen im Zusammenhang mit dem erlebten Missbrauch habe ich einige komplexe Verstrickungen ergründen können, wie zum Beispieil:

  • Psychische Verletzungen, Misstrauen
  • Nicht begründbare Wut und Zornausbrüche
  • Verkrampfte Sexualität
  • Mangelnde Beziehungsfähigkeit
  • Realitäten nicht akzeptieren, Abbrüche und Davonlaufen
  • Rachegefühle und Hass

Die während meiner Kindheit erduldeten psychischen Verletzungen haben mich über Jahrzehnte mehr oder weniger verfolgt. Ich blieb verwundbar. Das zeigte sich vor allem in immer wieder meist grundlos auftauchenden Wut- und Zorn­ausbrüchen. Belanglose Kleinigkeiten brachten mich oft explosionsartig in Rage.

Bei Auftreten von grösseren Schwierigkeiten in beruflichen wie privaten Situati­onen waren Abbrüche und Davonlaufen ein häufiges Muster. Ich konnte einige Male den Mut nicht aufbringen, mich den gegebenen Realitäten zu stellen, sie zu akzeptieren und Lösungswege zu suchen. Ich habe dann jeweils mit Verdrän­gen reagiert und den Ausweg über Neuanfänge gesucht.

Das ständige Belügt-Werden und das eigene Lügen während meiner Kindheit hatte zur Folge, dass ich mich im späteren Berufsleben extrem misstrauisch ge­genüber Vorgesetzten verhielt. Nur sehr wenige Autoritätspersonen habe ich respektiert. Ich habe nur kompetente Vorgesetzte akzeptiert. Unfähige oder schwache Vorgesetzte habe ich häufig kritisiert und in späteren Jahren sogar mit Verachtung behandelt. Damit habe ich mir natürlich einige Karrierechancen verbaut.

Während meinem ganzen Erwachsenenleben hegte ich Rachegefühle gegenüber der gesamten katholischen Kirche. Ich habe mir manchmal auch überlegt, ob und wie ich die Grabstätte meines Vergewaltigers beschädigen könnte. Persönli­che Begegnungen mit Priestern vermied ich, wo ich nur konnte. Ich war zu misstrauisch. Wenn ich während den immer weniger besuchten Gottesdiensten eine schlechte Predigt wahrgenommen habe, musste ich mich häufig dagegen wehren, nicht aufzustehen, wütend die Verlogenheit anzuprangern und die Kir­che zu verlassen.

Geblieben ist auch ein unbändiger Hass auf alle homosexuellen Männer, weil ich Homosexualität und Pädophilie nicht unterscheiden konnte. Erst in den letzten Jahren habe ich erkannt, dass Pädophilie überhaupt nichts mit Homose­xualität zu tun hat. Seither bemühe ich mich, homosexuellen Menschen vorur­teilslos zu begegnen und sie zu achten. Pädophile Missbrauchstäter hingegen betrachte ich weiterhin als charakterlose und abscheuliche Menschen.

Auslöser meiner Befreiung

Von den meisten all der ungelösten und belastenden Fragen und den irr­sinnigen Schuld- und Schamgefühlen habe ich mich erst in den letzten paar Jahren befreien können. Auslöser war ein physischer und psychischer Zusammenbruch im Jahre 2010. Innerhalb kürzester Zeit konnte ich eine psychotherapeutische Therapie begin­nen. Der Psychologin habe ich viel zu verdanken. Sie hat mir geholfen, mich zu öffnen und über alle aktuellen und vergangenen beruflichen, gesundheitlichen und privaten Schwierigkeiten zu reflektieren und darüber zu reden. Durch die einfühlsamen und gezielten Fragestellungen habe ich Vertrauen gewonnen und wagte erstmals im Leben, meinen in der Kindheit erlebten Missbrauch durch einen Priester auszusprechen. Dabei fühlte ich plötzlich eine unglaubliche Er­leichterung, fast vergleichbar wie bei einer Entleerung eines unter gewaltigem Druck stehenden Dampfkessels. Während den Therapiestunden habe ich auch Strategien kennen gelernt, wie ich in Zukunft mit Stress und Belastungen besser umgehen kann. Ich habe wieder Selbstvertrauen gewonnen und konnte mit der richtigen Distanz zurück ins Berufsleben.

Jetzt erst wurde mir so richtig bewusst, dass ich mich aktiv um die Beseitigung meiner bedrückenden Altlasten bemühen muss. Vorerst habe ich mich während stundenlagen Internetrecherchen schlau gemacht. Schon bald darauf habe ich mich entschlossen, den erlebten Missbrauch den Verantwortlichen des zustän­digen Bistums zu melden.

A.R. – März 2019